von NPC » Do 5. Jun 2014, 19:57
Der Schatten
Es schien eine gute Idee gewesen zu sein, hier herzukommen. Zufrieden strich er über den inzwischen recht prallen Beutel, der auf der Innenseite seines Mantels verborgen war. Ein verheißungsvolles Klimpern stellte ihm einige anständige Mahlzeiten und vielleicht sogar etwas Bier in Aussicht. Ja, es war riskant, sich hier blicken zu lassen, schließlich trieben sich auch nicht wenige Soldaten und Sidhe hier herum, vor denen es sich in Acht zu nehmen galt. Aber es war so verlockend gewesen! Wollte er sonst an so viel Geld auf einmal kommen, bedeutete dies in der Regel wochenlanges Spionieren und nicht selten auch, zu töten. Hier hingegen…
Betont gleichmütig sah er sich um, ob sich noch irgendwo eine Gelegenheit böte. Es war doch auf jedem Markt dasselbe: Die Menschen kamen, um sich zu amüsieren, brachten ganze Säcke voll Geld mit, das sie gegen irgendwelchen Plunder einzutauschen gedachten… und vergaßen in dem Gedränge ständig, auch mal ein Auge darauf zu haben. Wie der da… der fette Kerl da vorne, der schon zu dieser frühen Stunde deutlich mehr getrunken zu haben schien, als ihm gut tat. Mit schwerer Zunge dröhnte er gerade lautstark von seinen angeblichen Heldentaten, während er hoffnungslos unkoordiniert herumtaumelte und einen fast leeren Krug in einer Hand schwenkte. Sowas Jämmerliches! Mit einem verächtlichen Blick zog sich der Dieb in die Ecke neben einem Lederwaren-Stand zurück und beobachtete das Geschehen aus den Schatten heraus, die seine Heimat waren. Wo mochte der Mann sein Geld haben? So viel, wie er schon für Bier ausgegeben haben musste, lohnte es wahrscheinlich den Aufwand nicht, es zu stehlen. Andererseits… er sah durchaus vermögend aus, und dort… neben einem Berg bereits geleerter Krüge lag etwas, das verdächtig nach einer noch gut mit Münzen gefüllten Tasche aussah. Nun galt es nur, da unauffällig dranzukommen… Was für ein Glück, dass der selbsternannte Held alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
Langsam, so gelassen, wie es ihm möglich war, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge bis zu seinem Ziel. Mit jedem Schritt spürte er sein Herz schneller schlagen, wie immer, wenn er stahl. Das vertraute, taube Gefühl stellte sich ein, das ihn jedoch nicht daran hinderte, mit der größten Vorsicht vorzugehen. Als er direkt vor dem Beutel stand, vermied er es, überhaupt auf diesen hinabzublicken. Ein rascher Blick in die Runde, doch nein, niemand schien dem Fremden in dem schwarzen Mantel Beachtung zu schenken. Es gab Interessanteres. Auch der bisherige Besitzer des Geldes nahm keine Notiz von ihm. Wie selbstverständlich streckte er daher die Hand aus, griff nach dem Geld, schob es sich unter den Umhang und zog sich in aller Ruhe zurück. Das war ja schon fast zu einfach gewesen! Nachdem er einige Minuten in sicherer Entfernung gewartet hatte und niemand Alarm zu schlagen schien, beruhigten sich sein Herzrhythmus und sein Atem langsam wieder. Noch einmal geschafft!
…Doch in diesem Augenblick tönte ein gellender Schrei genau aus der Richtung, aus der er soeben gekommen war. Sofort spannten sich all seine Muskeln an, bereit zur Flucht. Hatte man ihn doch beobachtet? Würden sie ihm die Wachen auf den Hals hetzen, die hier überall herumliefen? Wo war sein Fehler gewesen? Fieberhaft überlegte er, wo er am leichtesten würde entkommen können… Doch bisher war niemand zu hören, der die Verfolgung aufgenommen hätte. Verwundert hielt er inne, alle Sinne weiterhin geschärft, aber kurz verweilend in der Erwartung irgendeiner Wendung des Schicksals. Und dann sah er etwas, was er hier nun wirklich nicht erwartet hätte… oder besser Jemanden. Jedenfalls glaubte er, die kleine Kreatur einen Sekundenbruchteil gesehen zu haben, als sie sich beeilte, unter dem nächststehenden Tisch in Deckung zu gehen… Er zögerte. Sollte er es wagen? Angespannt näherte er sich dem fraglichen Tisch und beugte sich hinab. Tatsächlich! Was in aller Welt…
„Zirp, verdammt! Was tust du denn hier?“
Verärgert sah er auf den winzigen Drachen hinab, der schon das ein oder andere mal sein Verbündeter gewesen war.