Sie umfasste den kräftigen Ast mit beiden Händen, drückte sich ab und zog sich hinauf. Dann griff sie um, hielt sich mit der Linken am Baumstamm und mit der rechten Hand an einem dünneren Ast über ihrem Kopf fest. Er ließ sich gut greifen, sodass sie sich sicher aufrichten konnte. Auf dem starken, stabilen Ast balancierend, blickte sie sich nach einer Stelle um, an der sie weiter hinaufsteigen konnte, und entdeckte eine vielversprechend aussehende Gabelung im Stamm. Sie setzte den Fuß hinein, fasste um und zog sich hinauf. Von dort aus einen Schritt zur Seite, auf einen weit ausladenden Ast, und dabei bloß gut festhalten. Die dünnen, glatten Äste lagen angenehm in der Hand, hatten genau die richtige Breite. Sie verharrte einen Moment und holte Luft. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Das ist verrückt, ich fliege 200 Meter hoch auf deinem Rücken, bestenfalls gesichert durch ein paar Lederriemen, und trotzdem bekomme ich Herzrasen, wenn ich drei Meter auf einen Baum klettere!“
Die weiße Greifin unter ihr hob den Kopf und gurrte amüsiert.
„Bestimmt vertraust du mir mehr als dem Bäumchen da. Außerdem betreibst du auf meinem Rücken meistens nicht solche Verrenkungen.“
Eben lehnte sie sich halb um den Baum herum, ihre linke Hand fest einen dünnen Ast umklammernd und mit dem linken Fuß auf einem anderen, kräftigeren stehend, während sie mit dem rechten Fuß sicheren Stand suchte, um die nächsthöhere Ebene ihres Ausgucks erklimmern zu können. Nun hangelte sie sich hinüber, schlang beide Beine um den Ast, den sie sich ausgesucht hatte, und zog sich hoch.
„Wir könnten das aber gerne mal ausprobieren, wenn du möchtest.“
Sie grinste, als die Greifin zur Antwort den Kopf abwandte und sich wieder in aller Seelenruhe ihrem Mittagsmahl widmete. Dann fuhr sie fort, den Baum zu ersteigen, den sie sich als Ausguck erwählt hatte. Nachdem sie noch gut einen Meter weiter hinaufgelangt war und keinen höheren Ast mehr fand, dem sie ihr Gewicht anvertrauen wollte, erlaubte sie sich endlich einen Blick durch das Blätterdach hinaus in Richtung Meer – und in Richtung Zuhause.
Was Neva sah, ließ ihr Herz einen kleinen Hüpfer machen. Wo andere nur ein unbedeutendes Dörfchen im Speckgürtel von Port Amun sehen würden, sah sie die Häuser, in denen die besten Freunde aus ihrer Kindheit gewohnt hatten, und das Haus, in dem sie selbst bis zu ihrem siebten Lebensjahr aufgewachsen war. Die Straße, in der sie immer Murmeln oder das Hüpfspiel gespielt hatten, wurde von der Mittagssonne beschienen. Und wenn sie genau hinsah, konnte sie auch die Töpferei ihres Vaters erkennen. Endlich waren sie da!
„Ich sehe das Dorf!“,
teilte sie ihrer Partnerin begeistert mit und ließ sie auf telepathischem Wege dasselbe sehen, was Neva von ihrem Platz in der Baumkrone aus sah.
„Es ist höchstens noch eine Wegstunde! Komm, lass uns weitergehen!“
So schnell sie konnte, kletterte sie von ihrem Ausguck wieder herab, landete sanft im Gras und machte sich daran, ihr Gepäck wieder anzulegen. Als sie den leicht belustigten Blick Saphiras spürte, hielt sie inne.
„Was ist?“
„Willst du nicht vielleicht zuerst etwas essen? Du hast schon das Frühstück ausfallen lassen, weil du es so eilig hattest!“
„Ach was, essen! Dafür ist später noch genug Zeit! Komm schon! Heute Abend kann ich dir endlich meine Familie vorstellen!“
Nun, eigentlich hatte sie schon ziemlichen Hunger, aber das konnte sie ja jetzt schlecht zugeben. Außerdem wollte sie wirklich schnell weiter. Nachdem man sie und die anderen Novizen endlich in die Sommerpause entlassen hatte, war Neva Feuer und Flamme gewesen, endlich mit ihrer Partnerin in die Heimat aufzubrechen und Saphira und ihre Familie miteinander bekannt zu machen. Auch freute sie sich darauf, selbst wieder Zeit mit ihrem Vater und ihren Geschwistern zu verbringen. Zwar schrieb sie ihnen regelmäßig lange Briefe, doch gesehen hatten sie sich nun seit einem ganzen Jahr nicht mehr, und entsprechend groß war die Vorfreude. Die Greifin hatte sofort begeistert eingewilligt, das kleine Stranddorf kennen zu lernen, in dem ihre Partnerin geboren worden war und ihr halbes bisheriges Leben verbracht hatte. So hatten sie sich kurz darauf aufgemacht und waren nun bereits seit zwei Tagen unterwegs.